Gründerzeitjuwel Görlitz droht einzustürzen

Ein Gastbeitrag von Michael Wieler
Im Zusammenhang mit der bevorstehenden Ansiedlung eines Großforschungszentrums in Görlitz und der damit nachvollziehbar einhergehenden Erwartung eines weiteren Bevölkerungszuwachses, wird die Notwendigkeit eines Impulses für die Sanierung leerstehender Wohngebäude wieder neu diskutiert. Auch jetzt – wie bereits häufig in der Vergangenheit – wird der Denkmalschutz als potenzieller Hemmschuh für eine prosperierende Bautätigkeit benannt. Wie berechtigt ist das eigentlich?
Kaum jemand wird bestreiten, dass die hochwertige, von der Denkmalpflege in den letzten drei Jahrzehnten eng begleitete Sanierung der Görlitzer Altstadt und der inneren Gründerzeit ein herausragendes Stück Lebensqualität und ein nachhaltiges Pfund für den Tourismus in der Stadt ist. Und tatsächlich übertönt der oftmals lautstarke Streit über Forderungen des Denkmalschutzes die viel häufigeren Fälle, in denen sich Hauseigentümer durch die Denkmalpflege gut beraten fühlen und durch deren Hinweise gerade erst die besondere Qualität ihrer Immobilie zu schätzen lernen. Dennoch ist der Streit um Forderungen des Denkmalschutzes da, wo er sachlich daherkommt, nachvollziehbar.

Denn die denkmalgerechte Entwicklung einer alten Immobilie nach zeitgemäßen Wohnanforderungen ist wirtschaftlich immer schwerer darstellbar geworden. Positive Rahmenbedingungen, die in den zurückliegenden Jahrzehnten vieles ausgeglichen haben, insbesondere die lukrativen Förderbedingungen und der reale Wohnraumbedarf für die vorhandene Bevölkerung, haben längst nicht mehr die Kraft, um Hauseigentümer für das Sanierungsabenteuer zu motivieren.
Den Wettlauf werden viele Häuser verlieren
Aber die Zeit drängt! Inzwischen haben nicht wenige Häuser in der Gründerzeit mehr als hundert Jahre auf dem Buckel, ohne jemals eine substanzielle Instandsetzung erfahren zu haben. Und jetzt – der Einsturz eines Gebäudes in der Landeskronstraße vor wenigen Jahren war ein Fanal – stürzen die „Buden“ nach und nach zusammen, oftmals lange unsichtbar nur im Inneren. Nach der Wende war das äußere Ansehen zwar ebenfalls wenig attraktiv, aber die Bausubstanz immerhin drei Jahrzehnte jünger. Den Wettlauf mit der Zeit werden viele Wohnhäuser der Gründerzeit trotz der berechtigten Hoffnung auf neuen Zuzug nicht mehr gewinnen – wenn nicht ein Paradigmenwechsel eintritt.
Wie könnte der aussehen? Soll die Denkmalpflege einfach mal ein oder besser alle beide Augen zudrücken und Dreie gerade sein lassen? Das würde dem Kulturerbe und den Anforderungen an eine verantwortungsvolle Stadtentwicklung kaum gerecht. Und, das ist die wesentliche Krux: das sächsische Denkmalschutzgesetz schließt ein solches Vorgehen aus. Natürlich hat der Denkmalpfleger Spielräume. Aber diese sind viel enger, als die meisten Anfeindungen unterstellen. Denn es geht um die Substanz, nicht um Fassade!

Das sächsische Denkmalschutzgesetz macht keinen Unterschied zwischen Denkmälern. Jedes unter Schutz stehende Gebäude ist ein Einzeldenkmal und darf als solches nicht relativiert werden. Und die Kompromisse, die im Einzelfall erforderlich wären, um ein denkmalgeschütztes Gebäude wirtschaftlich zu sanieren, wären größer, als es der Denkmalschutz in seiner gegenwärtig geregelten Form zugestehen könnte. Die Landesdirektion als Aufsichtsbehörde müsste nach den geltenden Bedingungen die Denkmalschutzbehörde der Stadt Görlitz, einschließlich ihres formellen Leiters, des Oberbürgermeisters, sehr schnell maßregeln, wenn zu weit gehende „Kompromisse“ Schule machen würden.
- Hier können Sie sich für unseren kostenlosen Görlitz-Niesky-Newsletter anmelden.
Das Gesetz hat den Makel, den viele – durchaus unverzichtbare – Gesetze haben. Es schert allzu Vieles über ein und denselben Kamm. Für größere Städte mit nur mehreren hundert Denkmälern und ausreichendem Raum für benötigte Neubauten mag dies hinnehmbar sein. Auch in einer Zeit wie nach der Wende, als es um den grundsätzlichen Substanzerhalt ging und klare Kante zu Recht angesagt war.
Denkmalpflegegesetz müsste verändert werden
Heute kann dies – jedenfalls für Görlitz – jedoch nicht mehr gelten! Wie keine zweite Stadt besteht Görlitz bekanntlich zu großen Teilen ausschließlich aus Denkmälern und hinkt seinem Wohnraumpotenzial unverschuldet demografisch hinterher. Das sächsische Denkmalschutzgesetz verfügt aktuell über keine Instrumente, um einer solchen Sondersituation gerecht zu werden und muss daher dringend überdacht werden. Der Landesebene, insbesondere dem fachlich zuständigen Landesamt, ist vorzuwerfen, dass es sich dieser Herausforderung nicht mit fachlich begründeten, konstruktiven Vorschlägen an den Gesetzgeber stellt.
Bereits vor Jahren hat die Görlitzer Verwaltung Vorschläge unterbreitet, klar definierte Zonen in der Görlitzer Gründerzeit als Entwicklungsbereiche auszuweisen, für die begründet privilegierte Sanierungsbedingungen gelten, welche der Bevölkerungsentwicklung, den zeitgemäßen Anforderungen an Wohnraum und der Wirtschaftlichkeit gerecht werden. Aufwendig wurde hierzu die „Görlitzer Matrix“ entwickelt, aber von Landesseite trotz vieler fachlicher Anerkennung ignoriert.

Am Boulevardtheater Dresden kommt im Dezember das singende, klingende Bäumchen auf die Bühne.
Ausdrücklich ist Görlitz nie für eine allgemeine Aufweichung des Denkmalschutzgesetzes eingetreten. Die Stadt selbst würde langfristig am meisten darunter leiden. Aber die nachvollziehbar begründete Sondersituation der Stadt berechtigt auch den Vorschlag von besonderen Entwicklungsbereichen mit einem präzise formulierten Monitoring, welches die Entwicklung dieser Zonen laufend evaluiert.
- Nachrichten per Push erhalten – hier können Sie sich anmelden.
Die Zeit spielt gegen die unsanierten Denkmale in Görlitz. Wenn sich der Paradigmenwechsel im Regelwerk der sächsischen Denkmalpflege nicht vollzieht – in der von Görlitz im Grundsatz vorgeschlagenen Weise oder einer anderen, vergleichbar wirkungsvollen – werden immer öfter Denkmäler in Görlitz einstürzen, nicht trotz, sondern wegen der geltenden Grundsätze der Denkmalpflege. Der oftmals vorgetragene Hinweis auf die Verantwortung des Eigentümers ist angesichts der gegebenen Rahmenbedingungen in Görlitz nicht mehr als wohlfeil und im Hinblick auf eine nachhaltig denkende Denkmalpflege ungenügend.
Nur die zweite Wahl, aber durchaus zu überlegen, ist der Weg, den das Land Nordrhein-Westfalen gegangen ist. Dort liegt die letzte Entscheidung über Denkmäler seit kurzem beim Stadtrat. Die Fachbehörde des Landes ist zu hören. Aber die Verantwortung wird vor Ort übernommen. Merke: Das Denkmalschutzgesetz ist keine der Tafeln, die Moses vom Berg mitgebracht hat, sondern profanes Landtagshandeln. Wohlan!
Kommentar schreiben